Andreas Jagodzinsky -Am Ende war es ein souveräner Sieg, bei dem alle Kämpfe gewonnen wurden und die NRW-Auswahl schon eine Runde vor Schluss als Sieger bei den Deutschen Ländermeisterschaften in Wiesbaden festgestanden hatte.
Aber nicht nur aufgrund der um einen Tag verkürzten Turnierdauer bei gleichgebliebenen sieben Runden war es ein hartes Stück Arbeit, den 2020 gewonnenen und 2021 an Bayern verlorenen DLM-Titel wieder zurück nach NRW zu holen.
Die Landestrainerin Carmen Voicu-Jagodzinsky konnte aus persönlichen Gründen in diesem Jahr die Mannschaft nicht begleiten. Andre Wolf, der sie auch in den vergangenen Jahren unterstützt hat und ich haben uns dann bemüht, sie bestmöglich zu vertreten.
Folgende Spielerinnen und Spieler hatte sie vorher ausgewählt:
Brett 1: IM Alexander Krastev (SG Solingen)
Alex ist ein Gewinn für jede Mannschaft. Nicht nur aufgrund seiner Spielstärke (er war der elobeste Spieler im Turnier) die klare Nummer eins im Team war er auch jederzeit bereit, seine Mannschaftskollegen mit Ideen und Hinweisen (selbstverständlich vor der Partie) zu unterstützen. Da ein Spieler die Mannschaftsführung in den Kämpfen übernehmen musste, war er zudem verlängerter Arm der Trainer. Bedenkt man, dass die Schachjugend NRW die Teilnahme zwar bezuschusst, aber die Spieler den größten Teil der Kosten selbst bestreiten, ist die Teilnahme von Alex nicht hoch genug zu bewerten.
Brett 2: Timo Leonard (SV Hemer)
Der amtierende NRW-Meister U18 hatte in den Sommermonaten zahlreiche Partien gegen Gegner zwischen 2200 und 2400 gespielt, so dass ihm die Aufgabe zukam, das zweite Brett gegen gute Gegner zu halten. Bei seinem Debüt war er gegen die meisten Gegner leichter Außenseiter.
Brett 3: Christian Gluma (SG Porz)
Der langjährige Bochumer hatte zuletzt große Fortschritte gemacht, die sich auch in einem deutlichen Elozuwachs zeigten. Trotzdem erwarteten auch ihn an Brett drei in der Regel nominell stärkere Gegner.
Brett 4: Hussain Besou (Turm Lippstadt)
Mit zehn Jahren war er schon Deutscher Meister der U12. Im ersten U12-Jahr hatte er wenige Tage vor dem Turnier im georgischen Batumi die Bronzemedaille bei den Weltmeisterschaften gewonnen. Für ihn war es bereits die dritte DLM-Teilnahme.
Brett 5: Eva Rudolph (Düsseldorfer SK)
Auch Eva hat in den letzten Jahren regelmäßiges Mitglied der NRW-Auswahl. Sie hatte im Sommer Silber bei der DJEM in der U18w gewonnen. Zahlreiche Medaillen mit der Vereinsmannschaft stehen in ihrer Erfolgsbilanz.
Brett 6: Maurin Möller (Blauer Springer Paderborn)
Maurin gab sein Debüt in der Landesauswahl. Ein Top10-Resultat bei den letzten Deutschen Meisterschaften in der U14 war u.a. seine Eintrittskarte in die Mannschaft.
Brett 7: Michelle Trunz (SG Porz)
Silber bei der Deutschen Meisterschaft U14w war das in diesem Jahr bislang beste Resultat für die DSB-Kaderspielerin. Zudem hatte sie auch Elo und DWZ zuletzt weiter steigern können.
Brett 8: Tamila Trunz (SG Porz)
Wie ihre große Schwester konnte sie in diesem Jahr eine Silbermedaille bei der DJEM U12w gewinnen. Neben Michelle, Eva, Hussain und Alex gehörte sie bereits 2020 der Siegermannschaft an.
Reserve: Maria Burlutskaia (SG Porz)
Die besonderen Regeln des Turniers, bei denen je ein Spieler U20, U18, U16, U14, U12 und je eine Spielerin U20w, U16w und U12w in der Mannschaft spielen dürfen, wobei jüngere Spieler immer an „älteren“ Brettern und Mädchen in unbegrenzter Anzahl spielen dürfen, waren für die Landestrainerin ein Grund, eine weitere U12-Spielerin mitzunehmen. Maria sollte erste Erfahrungen in der NRW-Auswahl machen.
Außerdem gehörten noch Elena Trunz, Verena Möller und Mustafa Besou der Delegation an.
Zwischen 17.00 und 20.00 Uhr waren alle Mannschaftsmitglieder am 30.09.2022 in der Jugendherberge in Wiesbaden eingetroffen. Nach einer kurzen Mannschaftsführersitzung kam die Mannschaft zusammen. Die Aufstellung wurde bekannt gegeben und wenig später begann auch schon die Vorbereitung auf die erste Runde, die am nächsten Morgen um 08.30 Uhr auf dem Programm stand.
01.10.2022
08.30 Uhr Runde 1: NRW – Sachsen-Anhalt
Wer hier einen lockeren Auftakt für unsere acht Spieler und Spielerinnen (Tamila pausierte) erwartet hatte (die Trainer hatten das übrigens nicht), sah sich getäuscht.
Christian kam an Brett drei nicht gut in die Partie und stand früh recht hoffnungslos.
Zum Glück brachte Maurin uns früh in Führung.
Ohne den genauen Kampfverlauf in Erinnerung zu haben, meine ich mich zu erinnern, dass Maria (nach sehr wechselhaftem Partieverlauf) dafür sorgte, dass wir immer vorne lagen. Aber da Timo seinen großen Vorteil zum Remis vergab und Eva eine Niederlage hinnehmen musste, war es nie so, dass wir einem deutlichen Sieg entgegensteuerten.
Michelle gewann eine kämpferische Partie.
Beim Stand von 4-3 war es am Ende Alex, der noch lange um den vollen Punkt spielte, aber letztlich ins Remis einwilligen musste.
Die nächste unangenehme Überraschung erwartete uns beim Mittagessen. Bei den warmen Gerichten schien man in Wiesbaden auf vegan bzw. vegetarisch mit Tendenz zu vegan zu setzen.
Als jemand, der Fleisch für einen Bestandteil einer ausgewogenen Ernährung hält, bin ich gegenüber anderen Ernährungskonzepten tolerant. Das Gegenteil von tierischer Kost ist jedoch nicht fad, ungewürzt oder fantasielos. Das sogenannte „Pastabuffet“ am 03. Oktober war in dieser Hinsicht der negative kulinarische Höhepunkt.
15.30 Uhr: Runde 2: Baden 1 – NRW
Der erwartet schwere Gegner. NRW ist eine Turniermannschaft. Über den Kampf zum Spiel finden.
Jede Floskel hätte auf diesen Kampf gepasst.
Wieder bringt uns Maurin in Führung, ohne dass dies zu einer wirklichen Beruhigung im Kampf führt.
Zwar kann auch die erstmals spielende Tamila nach einem Eröffnungsfehler schnell die Weichen auf Vorteil stellen. Aber die Verwertung dauert doch ziemlich lange.
Christian ist noch nicht richtig im Turnier angekommen und läuft früh einem Nachteil hinterher. Als er fast ausgeglichen hat, stellt er die Partie leider ein.
Da Michelle einen ziemlich gebrauchten Nachmittag erwischt, wird klar, dass hier jedes Ergebnis möglich ist. Zum Glück gewinnt unser WM-Dritter Hussain seine erste Partie.
Beim Stand von 3,5-2,5 spielen nur noch Timo, der nach einigen haarsträubenden Verwicklungen seine Stellung nun immer besser in den Griff bekommt, Michelle in Verluststellung und Alex.
Alex kann die Züger wiederholen (und muss das objektiv vielleicht auch), wartet eine ganze Weile, bis Timo sich ein besseres Turmendspiel erspielt und wiederholt dann die Züge. Der Kampf ist damit praktisch entschieden und Timo baut das 4-3 am Ende zum 5-3 auf.
Nach der Vorbereitung auf Runde drei reise ich erstmal ab, um am Sonntag für meine Mannschaft zu spielen und verpasse Runde drei.
02.10.2022
08.30 Uhr: Runde 3: NRW – Niedersachsen
Die Führung durch Maurin bekomme ich noch vor meinem Mannschaftskampf mit. Seine Gegnerin hatte früh eine Figur eingestellt.
Trotzdem bleibt es lange spannend. Am Ende steht jedoch ein 5,52,5 Sieg, bei dem endlich auch Christian seinen ersten halben Punkt holt. Überraschend verliert Alex seine Partie.
15.30 Uhr: Runde 4: NRW – Bayern
Nun steht das Spitzenspiel an. Bayern ist Titelverteidiger und hat im letzten Jahr als bereits feststehender Turniersieger NRW in der letzten Runde geschlagen und damit eine Medaille verwehrt. Wird diese offene Rechnung heute beglichen?
Dass Maurin uns mit 1-0 in Führung bringt, bedarf wohl keiner gesonderten Erwähnung.
Im Übrigen entwickelt sich ein harter Kampf, bei dem Vorteile wechseln.
Als ich gegen 17.30 Uhr wieder in Wiesbaden eintreffe, sind noch alle Ausgänge des Kampfes möglich, wobei sich der Trend langsam zu unseren Gunsten entwickelt.
So kann Timo Leonard, der erst klar besser und dann kurz auf Verlust stand, Remis machen. Wichtig auch der Kampfgeist von Christian, was absolut kein Schönreden seiner dritten Niederlage darstellen soll. Gegen die deutsche Nationalspielerin WGM Jana Schneider (Frauen nicht Mädchen), die bei der Schacholympiade in Chennai die Goldmedaille an ihrem Brett gewonnen hat, kämpft er beherzt und beschäftigt die Spitzenspielerin stundenlang. Andre verglich es mit einem Boxkampf, bei dem Christian stehend KO ist, aber weder aufgibt noch umfällt.
Alex, der in der Mittagspause auf meine Frage nach seinem Befinden mit „ein gutes Pferd springt nicht höher als es muss“, antwortete, überspielte den Deutschen U16 Meister Artem Lutsko und forderte dann Michelle, die in nahezu gewonnener Stellung ungewohnte technische Schwierigkeiten hatte, auf, nun Remis zu bieten. Damit gewannen wir den Kampf mit 4,5-3,5 und lagen allein an der Tabellenspitze.
Die Laune ist auch deshalb bestens, weil ich am Vortag für drei Mannschaftspunkte am zweiten Turniertag Pizzaessen ausgelobt hatte.
Nachdem einige unserer Spieler sämtliche Feinheiten der Preisgestaltung der Getränke erfragt und teilweise auch mit einem „zu teuer“ kommentiert hatten, jammerte der Besitzer der Pizzeria „Hätte ich auf meinen Vater gehört, müsste ich hier jetzt nicht arbeiten.“
03.10.2022
08.30 Uhr: Runde 5: Rheinland-Pfalz – NRW
Der nächste schwere Gegner wartet auf uns.
Als ich im Analyseraum sitze und mit Maria analysiere, kommt Maurin rein. Allerdings vermeldet er nicht das 1-0, sondern das 2-0. Zuerst war jedoch nicht Michelle fertig geworden, die früh klar besser stand, sondern Tamila.
Alex spielt wenig später Remis. Wer nun aber an einen ungefährdeten Sieg glaubt, sieht sich getäuscht. Michelle steht mittlerweile so schlecht, dass eine Niederlage wahrscheinlich ist. Timo geht chancenlos unter. Und in Zeitnot vergibt Eva nicht nur ihren Vorteil, sondern lässt eine Zugwiederholung aus und steht schlecht.
Zum Glück gewinnt Hussain. Christian steuert einen wichtigen halben Punkt bei. Und auch Michelle schafft mit einer tollen Verteidigungsleistung noch ein Remis. Das 4,5-3,5 reicht zur Verteidigung der Tabellenführung.
15.30 Uhr: Runde 6: NRW – Schleswig-Holstein
Ein neuer Matchplan muss her. Einfach nur auf Alex und unsere Elovorteile an den hinteren Brettern zu setzen, ist nicht genug da unsere Gegner hinten nicht schlecht besetzt sind.
Aber an diesem Nachmittag gelingt alles. Zwar hat Maurin seine Schwächeperiode immer noch nicht überwunden und bringt seinen sechsten Sieg wieder erst als Zweiter unter Dach und Fach. Aber abgesehen von einem Remis von Hussain gewinnen alle.
Eva ist als erste fertig. Gut vorbereitet kommt sie schnell zu einem unwiderstehlichen Königsangriff. Es ist eine der schönsten Partien der Meisterschaft.
Bemerkenswert ist die Partie von Tamila, die früh auf verlorenem Posten steht. Aber selbst das hindert sie nicht daran, ihre Partie noch zu drehen.
Als Timo und Christian fast gleichzeitig gewinnen, bin ich längst beim Spiel Hessen gegen Bayern. Dort steht es 2-2, aber Hessen drückt. Beim Stand von 3,5-3,5 kämpft der bayerische Spieler im Turmendspiel ums Remis. Aber er braucht einen Sieg, um das Titelrennen spannend zu halten.
Es ist schon fast 21.00 Uhr, als das Remis unterschrieben wird. Und damit sind wir Deutscher Meister der Landesschachjugenden.
Die ersten Siegerfotos werden gemacht.
In meiner Abwesenheit am zweiten Tag hatte die Mannschaft beschlossen, dass das offizielle Mannschaftsfoto erst mit dem Siegerpokal gemacht wird. Da ich am nächsten Tag früher abreisen musste, zeigt man sich kompromissbereit und stellt sich zum Foto auf.
Einige Spieler verbringen den Abend danach noch mit Spielen. Andere machen eine kurze Vorbereitung auf die letzte Runde.
04.10.2022
08.00 Uhr: Runde 7: NRW – Hessen
Für Hessen geht es noch um eine Medaille. Für uns geht es zum einen darum, sportlich anständig diesen Medaillenkampf nicht zu beeinflussen, aber auch um das Maximalresultat.
Warum die stark besetzten Hessen bereits fünf Mannschaftspunkte abgegeben haben, können sie selbst besser beurteilen.
Wir hatten jedenfalls einen enormen Respekt vor ihnen.
Doch die Mannschaft lässt nichts anbrennen.
Maurin hat seine Krise überwunden und gewinnt wieder. 7/7 ist selbstverständlich ein überragendes Resultat. Besonders wichtig war aber, dass er stets früh gewann und ab einem bestimmten Punkt die Mannschaft seinen Punkt einfach eingeplant hatte, was die nötige Sicherheit gab.
Am Ende heißt es 5,5-2,5 für uns.
Fazit
Natürlich gehört immer Glück zu einem solchen Sieg. Aber am Ende wäre es falsche Bescheidenheit, wenn man diesen Turniersieg nicht als hochverdient bezeichnen würde.
Neun charakterlich einwandfreie Spielerinnen und Spieler, von denen jeder bereit war, sich in den Dienst der Mannschaft zu stellen und individuelle Ergebnisse dem Mannschaftsresultat unterzuordnen, haben gemeinsam ein überragendes Turnier gespielt. Es gab keine Diskussionen um die Brettreihenfolge, Spieler, die verloren hatten, wurden von den Mannschaftskollegen aufgebaut, niemand musste alleine essen gehen, wenn mal jemand länger als der Rest der Mannschaft spielte.
Mir bleibt am Ende nur der Dank an die Landestrainerin Carmen Voicu-Jagodzinsky für die Auswahl dieser Spielerinnen und Spieler, an Andre für die gemeinsame Arbeit und die gemeinsamen Fußmärsche zu Plätzen, an denen wir das Mittagessen nachholen konnten, an die mitgereisten Elternteile für ihre Unterstützung, die Organisatoren um Harald Koppen für die gut ausgerichtete Meisterschaft und vor allem an Alex, Timo, Christian, Hussain, Eva, Maurin, Michelle, Tamila und Maria.
Ich nutze diesen Titelgewinn, um von dem Trainerposten umgehend zurückzutreten. Was soll man mehr erreichen?